3. Juni 2020

BLACK LIVES MATTER – EVERYDAY – EVERYWHERE

Zum gestern ausgerufenen #blackouttuesday erschienen unzählige Social Media Post ganz in schwarz. Die Netzgemeinschaft hat im Zusammenhang mit dem Mord an Georg Floyd ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt. Wir glauben, dass dies ein wichtiges Zeichen ist, keine Frage. Vielleicht ist es aber auch ein guter Moment, um nicht nur mit dem Finger auf die USA zu zeigen, sondern ihn auch direkt auf uns selbst zu richten. Auch in unserem Alltag ist Rassismus gegenwärtig. Verkleidet oder getarnt, ist er oft unkenntlich und spukt wie ein Gespenst durch die Straßen. Wir sollten jedoch unseren Mut einmal zusammennehmen und versuchen, ihn zu erkennen. Dieser Versuch kann schmerzhaft sein. Er kann ein tiefes Hinterfragen unseres Miteinanders beinhalten, das möglicherweise eine in dieser Hinsicht unperfekte und unschöne Gesellschaft offenbart. Nur so können wir uns unserer eigenen vorurteilsbehafteten Denk- und Handlungsmuster bewusst werden und verstehen, was wir durch sie ausstrahlen und vermitteln. Denn wir stehen in der Verantwortung, zu reflektieren, was wir an die nächste Generation weitergeben. Sie kann die Energie entwickeln, unsere Gesellschaft und unsere Welt positiv zu verändern. Doch ihre Energiespeicher müssen von uns gespeist werden.

Beispielhaft möchten wir euch, angeregt von „Welt von unten“, eine Situation aus der Perspektive eines Kindes schildern, wie sie sich sinnbildlich täglich unzählige Male in Deutschland ereignen wird.

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Voller Begeisterung laufe ich die Treppe in unserem Garten hinauf, schmeiße den Schulranzen in die Ecke hinter die Haustür und kann es kaum erwarten, euch von meinem ersten Tag alleine in der Grundschule zu erzählen. „Mama, Papa, es war spitze! Ich möchte jeden Tag in die Schule gehen. Ich kann schon den ersten Buchstaben schreiben und wir haben direkt angefangen zu rechnen: 1+1 und 2+2!“ „Das ist ja super“, antwortet Mama, nimmt mich in den Arm und stubst Papa mit ihrem Ellenbogen auffordernd in die Seite. „Großartig“ brummt Papa, schaut dabei aber noch nicht mal von seiner Akte auf, die er in der Mittagspause mit nach Hause gebracht hat. „Und wisst ihr, was das coolste ist? Ich habe auch schon zwei neue Freunde gefunden, Junior und Abdul.“ „Die sind aber nicht von hier, oder?“, fragt Papa und guckt mich irgendwie komisch an. „Wo sollen die denn her sein?“ frage ich mich, weiß gar nicht was ich antworten soll und sage lieber mal nichts.

„Habt ihr denn wenigstens auch einige richtige deutsche Namen in der Klasse, so was wie Lisa oder Paul?“, will jetzt auch noch Mama wissen. „Mhhh, keine Ahnung, irgendwie konnte ich mir noch nicht so viele Namen merken“, gebe ich enttäuscht zu. Irgendwie weiß ich auch gar nicht, wann ein Name deutsch ist. Und das mit Deutschland und den ganzen anderen Ländern habe ich auch noch nicht wirklich verstanden. „Auf jeden Fall habe ich Junior und Abdul zum Spielen eingeladen und sie kommen heute Nachmittag vorbei!“ Bei dem Gedanken an das gemeinsame Fußballspielen und Verstecken, habe ich gleich wieder ein Lachen im Gesicht. „Dann wollen wir mal hoffen, dass Abdul nicht noch seine großen Brüder mitbringt“, ruft Papa mir noch lachend zu als er auf dem Weg zum Auto ist, um wieder ins Büro zu fahren. „Ob Abdul wohl Brüder hat? Wir haben ja heute in der Schule über unsere Familien erzählt, aber da habe ich vielleicht nicht so genau aufgepasst…“ überlege ich.

Plötzlich klingelt es. Ich renne aufgeregt zur Tür, mache auf und schon stehen Junior und Abdul vor mir. „Cool, dass ihr da seid! Sollen wir direkt Fußball spielen gehen?“, frage ich noch schnell und weil die beiden Lust haben, legen wir schon unsere Schuhe als Torpfosten auf die Wiese und pfeifen das Spiel an. Es macht unglaublich viel Spaß mit Junior und Abdul zu spielen. Am spannendsten finde ich Junior. Er hat nämlich ganz dunkle Haut. Erst habe ich gedacht, das wäre Farbe, aber dann durfte ich sogar versuchen, sie weg zu schrubben. Hat aber nicht geklappt, die Haut ist wirklich dunkel. Irgendwie bin ich voll neidisch auf ihn, er sieht damit total besonders aus.

Als auf einmal ein Auto vor der Garage hält, fällt mir auf, dass wir total die Zeit vergessen haben. Papa ist schon von der Arbeit zurück. Als er aussteigt, sehe ich sofort, dass er schlecht gelaunt ist. „Wer sind denn die beiden hier?“, ruft er mir schon zu, während er noch seine Tasche vom Rücksitz holt. „Das sind Junior und Abdul, von denen ich dir heute Mittag erzählt habe“. „Junior und Abdul, aha“, Papa macht eine Pause und schaut die beiden genau an, „wo kommt ihr beiden denn her?“. „Aus Köln,“ rufen Junior und Abdul zeitgleich. „Nein nein, ich meine, wo kommt ihr wirklich her, wo seid ihr geboren?“, fragt Papa noch einmal. „Na im Krankenhaus“, antwortet Abdul. „Jetzt werd mir aber nicht frech,“ meint Papa etwas böse, „ich möchte wissen aus welchem Land du kommst.“ „Aus Deutschland“, sagt Abdul. Und ich habe das Gefühl, dass er gar nicht weiß, warum Papa ihn gefragt hat. Und ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. „Ich komme auch aus Deutschland“, will Junior noch sagen, aber Papa ist schon auf dem Weg ins Haus. Mir fällt auf, dass er Junior die ganze Zeit nicht angeschaut hat und zuhören möchte er ihm anscheinend auch nicht. „Wir gehen jetzt mal nach Hause, morgen ist ja wieder Schule“, verabschieden sich Abdul und Junior, „hat Spaß gemacht!“ „Das finde ich auch,“ rufe ich den beiden hinterher, aber irgendwie spüre ich gar nicht so richtig Freude in mir.

Den ganzen Abend muss ich an Papa, Abdul und Junior denken. Als ich im Bett liege, habe ich das Gefühl, dass Papa die beiden nicht mag. Irgendwie findet er es blöd, dass die beiden keine deutschen Namen haben und er glaubt ihnen nicht, dass sie aus Deutschland kommen. Und Junior wollte er noch nicht einmal anschauen. Ich bin total unsicher – Papa hat doch meistens recht und ich lerne sooo viel von ihm. Muss ich Abdul und Junior jetzt auch blöd finden?  Besser lade ich sie nicht mehr zu mir ein und suche mir Freund*innen mit deutschem Namen.

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Wie in unserer Geschichte können wir der nächsten Generation unsere Vorurteile, unsere Ablehnungen, unsere Angst und unseren Hass weitergeben. Dann wird sie unsere Gesellschaft weiter spalten.

Wir können der nächsten Generation aber auch zeigen, wie besonders und einzigartig jeder Mensch ist, ganz unabhängig davon, wer er ist, wo er herkommt oder was er besitzt. Wir können uns dazu entscheiden, ein Leben zu führen, in dem wir Vielfalt wertschätzen, in dem wir jedes Menschenleben würdigen und jedem Menschen die gleichen Rechte anerkennen. Mit dieser Entscheidung leben wir der nächsten Generation ein wertebasiertes Leben vor und befähigen sie dazu, ein vorurteilsfreies und wertschätzendes interkulturelles Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu ermöglichen.

Dafür braucht es aber uns alle, immer, an jedem Tag, an jedem Ort, in jeder Schule, in jedem Verein, in jeder Familie. Unser Denken und unser Handeln müssen von dem Bewusstsein gelenkt sein, dass wir jederzeit als Vorbilder für die nächste Generation fungieren und ihr implizit und explizit entweder unsere Vorurteile und Negativitäten oder aber unsere Wertschätzung und unsere Positivität vermitteln. Wir können den Alltagsrassismus verdrängen und ihn durch Offenheit für Begegnung und die Wahrnehmung von Vielfalt als natürlichen, schützenswerten und zu fördernden Zustand ersetzen.

Dann schaffen wir vielleicht die Grundlage dafür, dass es Mitte dieses Jahrhunderts keinen blacklivesmatter – Hashtag mehr braucht, um in unserer Erwachsenen-Gesellschaft eine Haltung zu erzeugen, die bei Kindern von Natur aus gegeben ist – bis wir sie ihnen abtrainieren.